Jenische Historie

Jenisch = Rothwelsch?

Die "Forschung" geht davon aus dass die Jenische Kultur nicht weiter zurückreichen kann als die Zeit des Dreissigjährigen Krieges, also das 17. Jahrhundert. Sie begründen zum Teil ihre These darauf dass erst im 18. Jahrhundert in Schweizer Chroniken die eigenbezeichnung "Jenische" für die zum Teil nomadischen Wanderhändler auftaucht. Dies ist allerdings nicht richtig. Würde man so leichtgläubig einer These Richtigkeit schenken, dann müsste man auch die Sprache als Sprache der Kellner ansehen. Denn in linguistischen Studien taucht die "jenische" Sprache als geheimer Jargon bei Wiener Kellner auf, die ihre Sprache "Jenisch" nennen.

Die Sprache ist viel viel älter und das beweist dass es ihre Sprecher ebenfalls sind. Es kann durchaus sein dass unsere Vorväter sich selbst nicht Jenische nannten sondern vielleicht anders. "Meysskopp" ist eine Eigenbezeichnung von "Jenischsprecher", genauso wie die Bezeichnungen "Bscheite" , "Kochemer" und "Schlausme" oder eben "Lakerten" für den Luxemburger Raum, was sich auf die Planwägen bezieht mit denen die Jensichen zu reisen pflegten.





Von der Obrigkeit wurden alle Fahrenden im Mittelalter als Landstreicher, Vaganten und Bettler klassifizert, später ab dem 17. Jahrhundert wurde die Gesamtbezeichnung Gauner oder Zigeuner gebräuchlicher. Aber auch und vor allem Rothwelsche oder Rothwelschsprecher waren Bezeichnungen für das Fahrende Volk wovon die Jenischen eine wichtige und vielleicht so gar die grösste der Teilgruppen darstellen. Genau diese Bezeichnung bereitet den Liguisten und Forschern Schwierigkeiten. Man kann davon ausgehen dass es Händlernomaden und Wanderhandwerker gab, eine Art umherziehende gesellschaftliche Kaste die ein Jargon untereinander nutzten welches wie schon in einem der ersten Posts erwähnt Hauptsächlich aus "deutschen" und "hebräisch/jiddischen" Worten besteht und die Suffixe "ling", "leck" und "isch" aufzeigen, wie etwa "Doberisch" für Tabak oder "Trittling" für Schuhe. Diese geheime Sprache die viele Eigenbezeichnungen kennt wurde im Laufe der Zeit nicht nur von dieser Kaste gesprochen. Denn alle die sich auf den Landstrassen Europas tummelten dürften irgendwann Worte dieser Sprache aufgegriffen haben und benutzt haben, was wiederrum die heutige Forschung umso mehr erschwert. Da sich aber die Jenischen als eben einer dieser Teilgruppe des Fahrenden Volkes seit dem Mittelalter bis heute erhalten haben kann man davon ausgehen dass sie a) die grösste Teilgruppe der Nomaden im Mittelalter darstellten, b) womöglich diese Urkaste der Umherziehenden sind welche die Sprache "schufen". Dass das nahe liegt beweist nicht nur die Sprache sondern auch die Bräuche, Sitten und Traditionen die einen Ursprung der Jenischen Kultur in der Antike vermuten lässt.

Die Erwähnung der Jenischen Sprache taucht erstmalig in Quellen des 13. Jahrhunderts, um 1250, auf. Im Jahre 1450 erscheint eine Handschrift, die sogenannten "Baseler Betrügnisse der Gyler" (Gyler = Bettler), welche eine Wortliste wiedergibt die sich mit unserem Jenisch das wir Heute noch untereinander sprechen genau deckt. Ein späteres Werk, das "Liber Vagatorum" Anno 1510, umfasst eine noch grössere Sammlung, ebenfalls identisch mit dem Heute gesprochenen Jenischen, und zählt überdies viele jenische ambulante Gewerbe auf, die die "Rothwelschsprecher" ausübten.




Die "Innsbrucker Urkunden" von 1574 berichten von einer Gruppe Hausierer und Wanderhändler die sich selbst eine eigene Bezeichnung gaben. Dort steht: "Und wenn sie und ihre Gesellschaft, einer oder mehr, zusammenkommen, und doch einander nicht recht erkennen, so fragt einer den anderen, Bist du ein Meysskopp, wenn der andere das bejaht so wissen sie wohl dass sie in der selben Gesellschaft sind und reden alsdann miteinander Rothwelsch, denn alle aus ihrer Gesellschaft sind es gewähnt und kennen die Sprache Rothwelsch."  Gesellschaft darf hier nicht im Sinne von Vereinigung wie etwa eine Geheimgesellschaft verstanden werden sondern eher auf die Anspielung auf ihren gesellschaftlichen Stand, ihre Schicht zu der sie gehören. Interessant ist auch die Eigenbezeichnung Meysskopp oder Meysskopf.

Ab wann die Jenischen sich selber Jenische nannten ist nicht hundertprozentig klar. Es existieren Dokumente aus dem 13. und 16. Jahrhundert im Archiv der Stadt Freiburg die von "Yeannische Freyleute" sprechen. Es gibt auch den jenischen Ausdruck "Yanneschla" für die Reise oder die Handelsschaft, was vermutlich auch, neben der Annahme Jenisch würde Eingeweiht oder Klug bedeuten, eine Erklärung der Eigenbezeichnung als "Reisende" sein kann.

Woher die Hebräismen in der Jenischen Sprache kommen ist schwerlich zu sagen. Sie bilden neben den Deutschen Wortkreationen den Hauptanteil der Jenischen Sprache, wie sie in ihrer Ursprünglichen Form gesprochen wurde. An dieser Stelle lasse ich einen Rothwelschforscher sprechen der sich eingehend mit den Werken von 1510, also dem Liber Vagatorum gewidmet hatte:

Den höchsten Anteil nach dem deutschen Substrat hat das Hebräische. Die „sprachlichen
Zwischenträger“ sind nach Jütte „die niedrigen Schichten des jüdischen Volkes“... dazu
gehören  "die wandernden Schüler, Scholaren, Bettler“ .  
Auch wenn die deutschen Christen und deutschen Juden denselben Zustand der
Nichtsesshaftigkeit im Mittelalter ertragen mussten, gestaltet sich das Leben für beide
religiöse Gemeinschaften auf der Landstraße anders. Viele jüdische Gemeinden wurden durch
die Judenverfolgung während der ersten Kreuzzüge im 12. Jh. zerstört, ihre Mitglieder
heimatlos gemacht. Infolgedessen und wegen anderer Unglücksfälle, von denen einzelne
Ansiedlungen betroffen sind, bildet sich 1200-1500 eine spezifische jüdische Armenordnung
heraus. Diese sieht vor, den Heimatlosen Aufenthalt zu bieten, bis sie
an einem Ort sesshaft werden können. Allein der  Zustand der Nichtsesshaftigkeit reicht aus,
um Almosen von der jüdischen Gemeinde zu bekommen . Der
jüdische Bettler wandert von einer Judengemeinde zu nächsten, um dort ein geringes Zehrgeld
zu empfangen. Das System der jüdischen Armenpflege reproduziert
zugleich die dauernde Nichtsesshaftigkeit. 
Anders als sein christlicher Weggenosse braucht der jüdische Bettler seine Bedürftigkeit nicht
zu begründen. Der christliche Bettler ist im Gegensatz dazu quasi gezwungen, sich
verschiedene Techniken oder „die Kunst zu fabulieren“ zuzulegen. Solche Techniken hatten
die jüdischen Bettler nicht nötig, sie konnten sogar disqualifizierend für sie sein. Der jüdische Beitrag zu den „Fahrenden Leuten“ im Mittelalter besteht hauptsächlich aus
Scholaren und Schülern, wobei der christliche Anteil der Fahrenden „Prostituierte und Zirkus-
Leute aller Art, Sänger, Gaukler und Akrobaten, das alte deutsche Erbstück der Römerstrasse“
einschließt. Sprachlich, religiös und kulturell getrennt, zugleich sozio-ökonomisch verbunden, treffen die christlichen und jüdischen nichtsesshaften Bettler einander auf der Landstraße. Jütte ist der
Meinung, dass unter den Nichtsesshaften überhaupt „eine Berührungsangst unbekannt“ sei.
Das ermögliche einen „Sprachaustausch“ zwischen dem „ebenfalls deklassierten jüdischen
Vagantentum“ und dem christlichen Vagantentum.
Nicht nur die bloße Anzahl von Wörtern jiddischer Herkunft im Rotwelschvokabularium deutet darauf hin. Auch die Zusammensetzungsmethoden einiger Wörter sowie die etymologische Herkunft der
Bettlerberufsbezeichnungen bezeugen die Freude daran, Ausdrücke zu kreieren, ohne
Sprachgrenzen (und dadurch etnischen Grenzen) Beachtung zu schenken. 







Ich bin der Meinung das Oben genannte kommt dem Kern der Sache ziemlich nahe. Fest steht dass die Jenische Kultur nicht im Dreissigjährigen Krieg zu suchen sind sondern sehr viel früher, im Frühmittelalter oder noch früher. Ich persöhnlich, als Jenischer der seine Tradition pflegt und lebt, möchte meinen dass Aussenstehende sich zu oft an dem Wort Jenisch aufhängen. Ich weiss von einem der Alten dass man sich Früher anders benannte als ein Jenischer... Man gebrauchte Jenisch schon als Bezeichnung für seine Leute und oft im Gegenzug Wittisch für die Anderen, aber man erzählte mir dass vor dem 18. Jahrhundert selten die Fahrenden "Jensich" Sprecher sich als DIE "Jenischen" bezeichneten. Ab wann das Eintraf ist meines erachtens nicht von Belang. Ich denke alleine schon dass die Wortliste von 1450 sich mit unserer Sprache von Heute deckt und mit dem  "Rothwelsch" der Gauner nichts zu tun hat, auch wenn die Obrigkeiten von damals alles was Jargon war unter Rothwelsch auflisteten, ist schon ein Indiz dafür wie alt unsere Sache ist. (Als Beispiel: rothwelsch: betteln = fechten ; jenisch: betteln = manken.)  Jedenfalls muss ein für allemal Begriffen werden dass die Vorväter im Mittelalter sich wahrscheinlich erst später als DIE Jenische verstanden und womöglich Regional unterschiedlich benannten, was ja die Historie auch nahe legt.

Jenische in Luxemburg

Pfaffenthal ist ein Vorort der Stadt Luxemburg. Seit dem Frühmittelalter war das Gebiet entlang des Flusses Alzette stets besiedelt. Im Mittelalter siedelten vor allem Fischer, Tagelöhner, Müller, Bäder, Gerber und Handwerker in dem Viertel was sich bis ins 19. Jh auch so gehalten hat. Hinzukamen die Kleinkrämer, Lumpen- und Altwarensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Schirmflicker, Schausteller und Musikanten, also kurz die Jenischen ambulanten Händler. Im 18. Jh finden sich auch dubiose Gestalten, Diebe und Prostituierte in diesem von Armut gezeichneten Stadtviertel wieder. Das Leben unterhalb der Festung ist rauer, derber und ungebundener. Noch heute spricht man von der berüchtigten Pfaffenthaler Mentalität. Charles Dickens hätte hier genug Stoff für seine Romane gefunden.

Im 18. und 19. Jahrhundert siedelten sich viele Jenische Familien überwiegend aus Deutschland, Frankreich und dem wallonischen Teil Belgiens hier an. Untereinander verständigten sie sich in ihrer jenischen Sprache. Aber nicht nur das Pfaffenthal war Siedlungsort der Jenischen, sondern auch die angrenzenden Stadtteile Fischmarkt, Grund, Clausen, Eich und Weimerskirch. Letzteres wohl bekannt durch seine Lumpenkrämer welche dort ihr Hauptort samt König aller "Lompekréimer" erwählten.


In der Siechengasse hatten viele Jenische Händler ihre Lager und Häuser. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts beschloss der Staat dass man dort diese Häuser weg haben wolle. Es kam zum Eklat zwischen Jenischen und Gemeindebeamten. Viele verloren ihr Heim, zogen in den Wohnwagen oder konnten dank des florierenden Handels neue Häuser woanders kaufen.

                                                 (Wagenburg im Pfaffenthal)



Noch heute erinnert ein luxemburgisches Volkslied an dieses Ereignis "Madammen aus der Siichegâss" so der Titel.



                                            (Pfaffenthal: Ansicht)

                                            (Pfaffenthal in den 50er Jahren)


Viele Familien assimilierten sich im Laufe der späten 40er und Anfangs der 50er allmählich da erstens die alten ambulanten Gewerbe unnütz wurden, und zum anderen da nach Kriegsende ein Wirtschaftsaufschwung herrschte und viele Jenische Arbeit in Fabriken und ähnliches bekamen. Nicht desto trotz übten viele Familien entweder als Nebenerwerb oder als Vollbeschäftigung die alten Gewerbe der Jenischen, Messerschleifen, Lumpen und Schrottsammeln, aus, und dies bis zum heutigen Tage. Andere wandten sich der Schaustellerei zu und gehören heute zu den bedeutensten und grössten Schaustellerfamilien Luxemburgs. Die Sprache wird auch heute noch gesprochen. Sie hat wie so vieler Orts unter der assmilierung gelitten und wird nicht mehr so fliessend beherrscht, aber dennoch sind die alten Bräuche und Sitten noch nicht ganz verloren. Unter der jenischen Gemeinschaft in Luxemburg wovon es etwa 3000 Personen gibt, haben 1/4 sich ganz assimiliert und die Nachkommen wissen nicht einmal das sie Jenische sind. 1/4 kann sich erinnern dass ihre Vorfahren Jenisch sprachen und ein ambulantes Gewerbe ausübten. Auch sie definieren sich nicht als Jenische sondern als normale Luxemburger Bürger. 2/4 aber wissen um ihre Herkunft und sprechen meist noch fliessend Jenisch. Sie sind stolz auf ihre Wurzeln, halten die Geschichte ihrer Familie und das ehemalige Gewerbe, wenn auch oft nostalgisch, in Ehren. Von diesen sind wiederrum 1/4 die sich noch immer als Jenische definieren, die, die Sprache noch beherrschen und ihren Kindern beibringen, die noch immer ein typisch jenisches Gewerbe ausüben und die Traditionen, Sitten und Bräuche pflegen. Dieser Teil der Gemeinschaft lebt fast ausschliesslich im Verborgenen, nach aussen hin assimiliert aber dennoch mit dem starken Bewusstsein einer anderen Volksgruppe anzugehören.

Erinnerungen aus dem 2. Weltkrieg

1940 wurde Luxemburg von der deutschen Wehrmacht unter dem NS-Regime besetzt oder regelrecht überrollt. Dies hatte zur Folge dass  die Luxemburger Bevölkerung schickaniert wurden. Man wollte sie mit dem Slogan "Heim ins Reich" unter das Deutschtum zwingen, wohingegen viele Luxemburger Resitenz Gruppen im Untergrund aufbauten und anfingen gegen die Besatzer zu agieren. Sie versteckten viele jüdische Landsleute und versuchten diese ins Ausland beispielsweise nach Frankreich zu schmuggeln. Einer dieser Gruppen waren die Pi-Men, die "Patriotes Indépendant Luxembourgeoises" welche vor allem im Süden des Landes agierten und zur Aufgabe hatten Fluchtwege für politisch Verfolgte, Wehrdienstverweigerer aber auch für Juden und andere Menschen die akkut in Gefahr waren zu organisieren.

                                            (Abzeichen der Resistenzgruppe der Pi-Men)

Die Jenischen stellten ihren Handel für die Dauer des Krieges ein, tauchten unter und versuchten nicht aufzufallen. Viele wurden als "Judenfreunde" und "Asoziale" verfolgt. Ob es in Luxemburg ähnliche Ausmasse annahm wie etwa in Deutschland oder den anderen Ländern ist noch weitgehend nicht erforscht worden.

Jedenfalls erzählt eine Luxemburgerin und Zeitzeuge folgendes:

"Einer der Frauen im Luftschutzkeller erzählte, weshalb man sie und ihren Mann eingelocht hatte. Ihr Mann war Scherenschleifer - und mit ein wenig Stolz erzählte sie uns, ihre Familie sei seit Generationen Scherenschleifer im Pfaffenthal.
Mit Wägelchen zogen beide jahraus, jahrein durch die Stadt und die Umgebung. Ihr Wägelchen war ein grosser Handkarren auf zwei Rädern, ausgesattet mit einem Schleifstein, der fuss- und handbetrieben wurde.
Um vor Regen und Sonne geschützt zu sein, hatten sie auf dem Wagen ein Baldachin montiert. Um das Ganze etwas Lustiger zu gestalten, hatten sie rund um den Baldachin einen breiten Streifen befestigt. Auf der einen Seite stand in grossen Lettern:

<Räder müssen Rollen für den Sieg>

und auf der anderen:

<Messer werden geschliffen für nach dem Krieg. >

Und hier lag der Hase im Pfeffer. Was sie lustig fanden, fanden die Deutschen Besatzer gar nicht lustig, und so wurden sie eingelocht."

Nach einer wahren Geschichte erzählt von der Zeitzeugin "Madeleine Weis-Bauler"
in : Les cahiers luxembourgeois, Editeur Nic Weber, 1/2000


Hier sieht man wieder den unverkennbaren bissigen Jenischen Humor. Auch interessant zu sehen dass es durchaus einige Jenische gab die offen Stellung gegen das NS Regime bezogen...

                                        (Nic Guill - Scherenschleifer in Luxemburg um 1949 )





Jenische im Raum Köln

Mittwoch, 4. Januar 2012 

„Jenische“ hinterließen Spuren

Von CHRISTINE BADKE, 08.08.07, 07:15h

Euskirchen-Stotzheim - Die Vorfahren des Stotzheimers Hans Habeth reisten als „Fahrende“ durch die Eifel. In Stotzheim hatten sie als Korbflechter, Kesselflicker und Wanderhändler ihr Auskommen.

Bild: Badke
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Die Vorfahren des Stotzheimers Hans Habeth reisten als „Fahrende“ durch die Eifel.
Euskirchen-Stotzheim - Wahrscheinlich, so steht es in der „Geschichte der Pfarreien der Erzdiözese Köln“ aus dem Jahr 1900, hätten sich die „Wannläpper“ in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Stotzheim niedergelassen. Das sei eine besondere „Merkwürdigkeit“ dieser Pfarrei am „Ausgange des Erftthales“. Eine ältere Quelle, die „Topographisch-statistischen Beschreibungen der Königlichen Rheinprovinzen aus dem Jahr 1830“, datiert die Ansiedlung gar 70 Jahre zurück auf die Mitte des 18. Jahrhunderts. Man nahm an, es handele sich bei diesen „Wannenflickern“ um „Abkömmlinge getaufter Zigeuner“. Tatsächlich gehörten Korbflechter, Kesselflicker und Wanderhändler lange zum alltäglichen Dorfbild. Der Stotzheimer Hans Habeth kann sich noch gut daran erinnern. Er bezeichnet sich selbst stolz als einen dieser Stotzheimer „Dynastie“ der „Jenischen“, denen in Deutschland insgesamt noch etwa 200 000 Menschen angehören. So genau kann das niemand sagen - schließlich gibt es jene, die sich auf ihre Familiengeschichte und den Reisehandel berufen. Andere dagegen sind vollständig „bürgerlich“ geworden.
Ein richtiger Künstler
Der 74-Jährige sieht noch einen der Stotzheimer Kesselflicker vor sich. „Er saß arbeitend am Dorfbrunnen. Die Tochter ging von Haus zu Haus und holte Arbeit herbei.“ Der Schwager seines Großvaters sei in diesem Handwerk ein richtiger Künstler gewesen, erinnert sich Habeth. Der klopfte von einem Emaille-Kessel einen feinen Rand weg, bog ihn auf („bördeln“) und zog einen neuen Zinkboden auf. „Sowas würde man heute einfach wegschmeißen“, meint Habeth.
Was ihm selbst mit seinem ausgeprägten historischen Bewusstsein nicht passieren würde. Der ehemalige Vertriebsprofi, der 30 Jahre für die Marke „Knorr“ im Außendienst arbeitete, zeigt das Kochgeschirr, mit dem er und seine Frau der kleinen Tochter Anfang der 50er Jahre den ersten Brei kochten. Viele Fotos aus Stotzheim, darunter von Schulklassen, Kommunionkindern, seiner Familie sowie weitere geschichtliche Zeugnisse befinden sich in seinem Besitz. Fotos von Jenischen im Ortsbild sind allerdings nicht zu finden, die Erinnerung lebt von der mündlichen Überlieferung.
Stundenlang hörte Hans Habeth als Kind zu, wenn seine Familie sich in der jenischen Sprache unterhielt und das Leben als reisende Händler und Kesselflicker schilderte. Vor allem seine Großeltern Johann und Maria Habeth (geborene Reitz) prägten ihn. Da war seine Großmutter, für die ihre Familie stets der Mittelpunkt war, bis sie nur 58-jährig verstarb. Der Opa war ein klassischer Patriarch, der über seine Familie wachte und herrschte.
Doch Jenische und Nicht-Jenische hätten sich oft misstrauisch gegenüber gestanden, berichtet Hans Habeth. In der Schule, auf der Straße habe man das gemerkt. Zwar steht schon in der oben zitierten Pfarr-Chronik, „im Uebrigen“ habe man „viel zu viel Wesens von diesen Leuten gemacht (...), da sie sich den übrigen Bewohnern fast ganz assimiliert haben“. Aber anfangs seien beispielsweise Ehen zwischen den Gruppen nicht erwünscht gewesen. Und die geistlichen Herren, so Habeth, seien an einer Ausgrenzung nicht ganz unbeteiligt gewesen.
Warum sich diese etwa 30 Personen, die hauptsächlich zwei oder drei Familien angehörten, ausgerechnet in Stotzheim angesiedelt haben, ist ebenso ein Rätsel wie die Herkunft der Volksgruppe, die wegen ihrer teils nomadischen, teils halbsesshaften Lebensweise oft als „weiße Zigeuner“ bezeichnet oder mit Sinti oder Roma verwechselt werden.
Die Gleichsetzung scheint darin zu gründen, dass auch die Jenischen, die hierzulande überwiegend in Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zu finden sind, „Fahrende“ waren. Habeths Urgroßeltern waren noch mit einem von Pferden gezogenen Wohnwagen unterwegs. Seine Großeltern zählten Anfang der 30er Jahre zu den ersten Stotzheimern, die eigene Autos besaßen. Nach der Schneeschmelze fuhren sie los, bevorzugt in die Eifel und das Siegerland. Im Winter zog es sie nach Stotzheim zurück, wo sie in der Koenenkreuzstraße ein Haus besaßen.
Sie verkauften neben Kurzwaren auch hochwertige Tuche und allerhand Kleinigkeiten. Sein Großvater nahm seinen Enkel Hans von klein auf mit, wenn er in Euskirchen oder Köln neue Ware einkaufte. Traditionell lag der Tuchhandel zu einem großen Teil in den Händen jüdischer Kaufleute. Nie wird Hans Habeth vergessen, wie er seinen Urgroßvater als Fünfjähriger am Tag nach der Reichskristallnacht begleitete: „Wir waren zuerst in Flamersheim, dann in Euskirchen. Aus den Synagogen sah man noch Feuer und Rauch aufsteigen, die jüdischen Geschäfte waren verwüstet.“ Darunter das Geschäft des jüdischen Tuchhändlers Kleffmann an der Wilhelmstraße, mit dem die Habeths oft verkehrten. Erst einige Stunden später erfuhr der Großvater, dass die Ereignisse nicht lokal begrenzt waren. „Der Opa hörte laufend Radio“, so Habeth, „und fragte sich immer wieder, was aus dem guten Katz geworden sei.“ Das war ein Kölner Geschäftspartner, der den jungen Hans stets mit Bonbons beschenkte, wenn er zu Besuch war.
Die Jenischen blieben zunächst von einer Verfolgung, wie sie etwa die Mitglieder ihrer Volksgruppe im Rest Deutschlands und in Österreich erleiden mussten, verschont. Wegen der „Judenfreundlichkeit“ aber, die durch den Handel vorausgesetzt wurde, kam es zu Repressalien. Habeths Großeltern waren die ersten, deren Autos konfisziert wurden. Damit war die Basis für Geschäft und Familie zerstört. Mit seinen Eltern Heinrich und Agnes Habeth verbrachte der Jugendliche Hans Habeth die Nachkriegszeit in bitterer Armut. Der soziale Aufstieg gelang dem Stotzheimer nach seiner Lehre als Industriekaufmann bei der ortsansässigen Firma Halstrick.
Hans Habeth hat sein Leben schriftlich festgehalten: „In dem Buch sind all meine Erinnerungen, gute und schlechte, Erfolge und Niederlagen, Fehler und Gutes.“ Und natürlich jene „besondere Merkwürdigkeit“ der Pfarrei Stotzheim, die begann, als die Jenischen im Dorf auftauchten.